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Orange?

Montag, 5. August 2013

Eine Minderheit und ihre Sprachen

יצחק באַשעוויס זינגער": men fregt mich oft, far wos schrejbste in yiddish? Un ich wel gebn ojf die frage an entfer, un mein entfer wet sejn a yiddish lache, des heisst ich will entfern oif a frage mit a frage: Der entfer is – was will ich nicht schreibn ojf yiddish?"

"In a figurative way, Yiddish is the wise and humble language of us all, the idiom of frightened and hopeful Humanity."
[Izhak Bashevis Singer, aus der Nobelpreisrede 1978]
1. Antike:
Die doppelte Definition der Juden als Ethnie (Volk) und als Glaubensgemeinschaft macht es oft nicht einfach, zu sagen, was eine Jüdin bzw. ein Jude eigentlich ist. So ist es auch ausnehmend schwierig, die Anfänge des Judentums einzugrenzen. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass die heiligen Schriften des Judentums (die dem Alten Testament entsprechen), der Tanach, erst im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung Gestalt annahmen. Das gilt auch für den wichtigsten Teil, die Tora. Das identitätsstiftende Babylonische Exil begann 597. Es scheint sinnvoll, die Geschichte des Judentums nicht allzu viel weiter in die Vergangenheit zu verlegen: Vorher waren die Juden eine zufällige Ansammlung von semitischen Hirtenstämmen mit unterschiedlichen Stammesgottheiten, Diese Menschen sprachen mehrere eng verwandte Sprachen, nämlich (neben Nabatäisch und Samaritanisch) vor allem Hebräisch und Aramäisch, zwei Sprachen, die noch weit über die biblische Zeit hinaus im (später so genannten) Palästina gesprochen werden. Es ist interessant, dass die Epoche des Alten Testaments, vor allem aber die des Neuen Testaments, parallel zum Hellenismus stattfand; das Neue Testament ist daher auch in Griechisch verfasst. Dennoch: was die biblischen „Väter” (und Mütter?) gesprochen haben, war Hebräisch und Aramäisch. Letzteres ist übrigens die Sprache, die Jesus offenbar gesprochen hat; „Eli eli, lama sabachthani”, „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?” ist Aramäisch.

2, Diaspora
Als der babylonische Künig Nebukadnezar ab 597 v.u.Z. die von den Juden bewohnten Lande eroberte, wurden viele Juden, vor allem aus der Oberschicht, nach Babylon verschleppt. Die Bibel berichtet verständlicherweise etwas tendenziös von der „Babylonischen Gefangenschaft”, die so schlimm nicht gewesen sein dürfte. Aber: so begann das sonderbare Schicksal der Juden, wesentliche Teile ihrer Geschichte „verstreut unter den Völkern” (5 Mose 28) zubringen zu müssen. Man nennt die Fremde, in der sie lebten, Diaspora. Dieser Zustand endete mit der Gründung am 5. Ijjar 5708 (nach dem jüdischen Kalender; nach unserem 14. Mai 1948 ) von Medīnat Yisrā'el, dem Staat Israel, durch die Zionisten. Doch leben viele Juden auch außerhalb dieses Staates, und nicht alle sind mit seiner Politik eiverstanden. In gewissem Sinn leben viele Juden auch heute noch in der Diaspora.
Chagall, Rabbiner (Ausschnitt)

Sprachlich gesehen ist die Situation uneinheitlich; je nachdem, wo die jüdische Minderheit lebte, und wie sie toleriert wurde, dürfte sich die Sprache unterschiedlich entwickelt haben, derer sie sich bediente. Als besonderes Volk, ja als auserwähltes, und wegen des Beharrens auf eigene Lebensweisen, Sitten und Rituale und natürlich auf den eigenen Glauben wurden sie oft angefeindet. Dem Umstand, dass sie anders lebten, begegnete man mit Misstrauen, und oft waren sie bestenfalls geduldet. Dem war nicht immer so: Es gab auch Momente in ihrer bewegten Geschichte, in denen sie angenommen und als Nachbarn geachtet wurden, etwa in Baghdad im neunten Jahrhundert, in Córdoba im zehnten. oder in den Vereinigten Niederlanden im 17. Jahrhundert. Meistens jedoch war der Frieden heikel und die Tolerierung an Sondersteuern gebunden. Pogrome (also Massaker) an der jüdischen Minderheit wiederholten sich immer wieder, und den Juden blieb vielfach nur die Flucht.

3. Vertreibungen
Die ersten Pogrome in (West)Europa standen im Zusammenhang mit den Kreuzzügen, die sich zwar vor allem gegen die (muslimischen) Sarazenen richteten, aber jüdische Gemeinden in vielen Teilen auch Deutschlands in blutige Mitleidenschaft zogen. Hirngespinste wie Hostienfrevel oder Brunnenvergiftungen oder Ritualmorde wurden ihnen nachgesagt, und der Mord an „unserem Herrn Jesu” sowieso. Die Juden Deutschlands brachten sich in Sicherheit, und die glaubte man im noch dünn besiedelten Osteuropa zu finden. Sie brachten mit sich: die deutsche Sprache. Ein einzigartiger Fall von Sprachvermischung brachte das Jiddische hervor. Die Wurzel, mithin die grammatische Struktur, blieb im Wesentlichen deutsch, aber vermischt mit einzelnen hebräischen Worten (wie man sie beim Studium etwa des Talmud fand und benutzte: die Sprache der Synagogen). Dazu kamen Wörter aus dem Polnischen, dem Russischen und anderen osteuropäischen Sprachen. Das Jiddische wirde zur familiären1 Umgangssprache, die eigentliche Muttersprache, oder, wi men sogt oif Jiddisch, die Mameloschn. Da man sie mit der (einem Juden aus dem Talmudstudien in der Jeschiwe vertrauten) hebräischen Quadratschrift und von rechts nach links schrieb, sieht sie exotischer aus als sie ist. ײדיש יז גאר ניט שײעך - Jiddisch is gor nischt asoi schwer!

Als die Reyes Católicos (Ferdinand und Isabella) im Zuge der Reconquista, der Zurückeroberung Spaniens ab den 1480ern, alles vertrieben, was sich nicht christlich nannte, betraf das natürlich und zuallererst die Juden. Diese flohen vor allem in städtische Zentren im Mittelmeerraum (Osmanisches Reich!) und darüber hinaus: nach Istanbul, Izmir, Jerusalem und Beirut, nach Livorno2, aber auch nach Bordeaux, Amsterdam und Hamburg. Man nannte sie Sephardim, und unter ihren Nachkommen finden sich einige illustre Namen: der Aufklärer Moses Maimonides, Baruch Spinoza und Jacques Derrida, beide Philosophen, der britische Premier Benjamin Disraeli, oder der Schriftsteller Elias Canetti.

Ihre Sprache war das Ladino, das manchmal auch „Judenspanisch” heißt, so wie Jiddisch das „Judendeutsch” ist. Die Grundlage ist hier Spanisch und z.T. Katalanisch und Portugiesisch, durchsetzt mit hebräischen begriffen und – das ist vielleicht ein größerer Unterschied zu Jiddisch – mit mehr gemischten Formen, d. h. spanische Wörter mit hebräischen Prä- und Suffixen (Flexionsendungen usw.) und deutlicheren grammatischen Einflüssen. Obendrein und angesichts der Umstände naheliegenderweise: voller Arabismen. Und wie Jiddisch wird es gewöhnlich mit „hebräischen” Buchstaben geschrieben. Viele der Sephardim waren Kaufleute, und ihr Ladino beeinflusste oft andere, mit denen sie Handel trieben. Trotzdem: auf lange Sicht gesehen, konnte Ladino nicht überleben, und gegen Anfang des 20. Jahrhunderts schwand es dahin. 

Es gab also das Judentum im Osten, im heutigen Polen, in der Ukraine, in Weißrussland oder im Zarenreich. Die Mehrzahl dieser Menschen lebte auf dem Lande, im Schtetl, ein Leben von naiver Frömmigkeit. Daneben gab es aber auch Juden, die gesellschaftlich mehr oder weniger integriert waren und die sich in erster Linie als Deutsche, Franzosen oder was auch immer fühlten und die auch nicht, oder sehr wenig, Jiddisch sprachen. Das - die Juden der Schtetls wie auch die integrierteren Glaubensgenossen - waren die Aschkenasim. Im Unterschied dazu gab es, vor allem in den orientalischen Metropolen, aber auch in Orten wie Hamburg oder (besonders) Amsterdam die Juden, die (oder deren Vofahren) aus SPanien vertrieben worden waren: die Sephardim.

Sonderfall: Chasaren. Die Chasaren waren ein Steppenvolk, das u.a. den westlichen Teil der Seidenstraße kontrollierte und an der Kreuzung zwischen Orient und Okzident siedelte, nördlich des Kaspischen Meeres. Gegen Ende des 8. Jahrhunderts traten Herrscher und Adel und wohl auch, wie man heute zu wissen glaubt, weite Teile der Bevölkerung zum Judentum über. Da die Chasaren ihre Sprache, eine Turksprache, beibehielten, und da das Reich der Chasaren ohnehin zwei Jahrhunderte später von den Kiewer Rus (den Vorfahren der Russen) gewaltsam bezwungen wurde, ist dieses historisch so ziemlich einzigartige Ereignis hier nicht weiter von Belang.

4. Medinat Jisra’el:
Mit der Gründung des Staates Israel; Medinat Jisra’el, erfüllte sich der Traum vieler Juden: wieder zurückzukehren ins Land der Väter. Die Bewegung, die unter den Juden der Diaspora darauf hinarbeitete, dies möglich zu machen, nannte man Zionismus, und der Hinweis darauf, dass die Väter vor bereits mehr als zweitausend Jahren in eben diesem Land gelebt hatten und mithin der Anspruch etwas weit hergeholt schien, wurde von den Zionisten nicht gerne gehört. Als der britische Außenminister A. J. Balfour den Juden der Welt eine Heimat versprach (in der spg. „Balfour-Declaration” von 1917), tat er das aus politichen Gründen. und es war ein fragwürdiges Signal. Denn es war beileibe nicht jeder Jude in der Diaspora ein Zionist; viele fühlten sich in dem Land, in dem sie lebten, recht wohl, und sie hätten um nichts in der Welt in die vorderasiatische Halbwüste „zurück”-gewollt. Die Auseinandersetzung um Palästina und das Heimatrecht der verschiedenen Völker, die dort leben, wird wahrscheinlich noch lange andauern.
Klezmer-Musikanten

Israel wurde hier aber aus einem anderen Grund erwähnt, und zwar, weil dort etwas geschah, das Seltenheitswert hat. Mir ist kein anderer Fall dieser Größemordnung bekannt: Eine Sprache, die bereits tot war – oder, genau genommen, die zwar Gott verstand, aber kein Mensch mehr sprach, nämlich das Hebräisch der Torah, des Talmud und der Mischnah, die heilige Sprache der Juden, wie sie in der Synagoge feirlich gebraqucht wurde, aber sonst nirgends – diese Sprache wurde wieder zm Leben erweckt. Erfolgreich! Man kann in dieser Sprache Vorträge halten, verliebt flüstern, ordinär sein, Slang benutzen und sogar fluchen. Das ist ein kleines Wunder. Nur heißt sie nicht mehr Hebräisch – man nennt sie Iwrit.

5. Di goldene medine
Man könnte jetzt meinen, wir wären wieder am Anfang angelangt: Man spricht wieder die Sprache der Väter, und zwar im Land der Väter, und Israel ist ein großartig junges, dynamisches Land. Und doch sei noch angemerkt:
  • Es gibt gute Gründe, mit der Politik des Staates Israel nicht einverstanden zu sein, vor allem nicht mit der sogenannnten Siedlungspolitik.
  • Iwrit ist Amtssprache in Israel, eine junge Generation ist damit augewachsen. Das ist gut. Die andere Amtssprache ist Arabisch, und auch hier gibt es eine junge Generation. Auch das ist gut. Nur: Sie haben noch nicht geleern, einander gelten zu lassen. Ungut!
  • Die unter den Juden der Welt meistgesprochene Sprache ist – Englisch, Denn allein schon in Amerika (Amerike: di goldene medine / das „goldene” Land) gibt es praktisch so viele Juden wie in Israel.
  • Und nur in Amerika spricht eine nennenswerte Anzahl von Menschen noch Jiddisch.
  • Selbst die Art, wie Yiddish wet geshribn is gemakht gevorn Americanish. 
1) Im wörtlichen Sinn: die Sprache, die in der Familie gesprochen wurde. Aber schon auch „vertraut”
2) wo man sie nicht zwang, im Ghetto zu leben) Livorno galt damals als „Paradies der Juden”.