Mal was über Orange.

Orange?

Dienstag, 25. August 2015

Goten?

Gotland
Die schwedische Insel Gotland (schwed. Götaland) trägt heute noch ihren Namen, auch wenn die Herkunft der Goten von dieser skandinavischen Insel umstritten ist. Später finden sie sich sowohl am Südrand der Ostsee, aber auch am Schwarzen Meer (Krim). Ihre Sprache ist der einzige uns bekannte Vertreter der ostgermanischen Sprachen.

Exkurs: Germanisch gibt es in drei Sprachgruppen: Westgermanisch (d.h., Deutsch, Niederländisch, Englisch, Friesisch), Nordgermanisch (skandinavische Sprachen) und Ostgermanisch.


Das ostgermanische Gotisch ist dank einer Übersetzung von Teilen der Bibel durch einen Bischof namens Wufila ("Wölfchen") gut überliefert (4.Jhd). Übrigens erfand Wulfila gleich noch eine Schrift dazu, denn die Goten schrieben kaum, und wenn, wie bei germanischen Völkern üblich, umständlich in Runen. Und so "klingt" ihre Sprache: atta unsar þu ïn himinam / weihnai namo þein (Der Buchstabe þ, der heute noch im Isländischen gebräuchlich ist, steht für den (englischen) th-Laut; der Text ist der Anfang des Vaterunsers). Vgl. den Nachtrag weiter unten.
Aus "Asterix und die Goten"
Als gegen Ende des 4. Jahrhunderts (also etwa zu Wulfilas Zeiten) asiatische Steppenvölker ("Hunnen") in Europa eindrangen, lösten sie eine Kette von Wanderungsbewegungen in weiten Teilen Europas aus, die man heute die Völkerwanderung nennt. Da es selten ganze Völker waren, die da umzogen, und da sie das nicht über Nacht taten, und nachdem "Wanderung" zu sehr nach einem kleinen Spaziergang klingt, ist der Ausdruck vielleicht nicht ganz treffend. Bunte Haufen von Menschen, die mit allen Habseligkeiten auf Ochsenkarren eine neue Heimat suchten, planlos, vielleicht auf Gerüchte hin, jenseits dieses oder jenen Flusses, hinter den Bergen etwa, gebe es Land für alle. Mit Kindern im Tross, die Alten und Schwachen mit sich führend, kann das nur langsam gegangen sein, eine beschwerliche Reise in eine ungewisse Zukunft. Begleitet und geschützt wurden sie vermutlich von den jungen, wehrhaften Kriegern auf Pferden, die bei zwangsläufig eintretenden Konflikten mit anderen Gruppen mobil reagieren konnten.
Die Goten zogen mit, teilten sich, manche siedelten hier oder da, andere zogen weiter, und allmählich bildeten sich zwei, drei größere Völker heraus, die man Ostgoten (oder Ostragothen), Westgoten (Visigothen) und Gepiden nennt. Unter ihnen sind es besonders die Westgoten, die im Laufe nur weniger Generationen einen geradezu fantastischen Zug durch Europa vollbrachten, von den Karpaten, durch den Balkan, die Donau hinauf, durch ganz Italien, Südfrankreich, über die Pyrenäen und auf die iberische Halbinsel. Sie gründeten in Südwestfrankreich und in Spanien neue Reiche, das Reich von Tolosa (Toulouse), das Reich von Toledo und andere. Die Gepiden siedelten derweil im Karpatenbogen.
Theoderich, a.k.a. Dietrich von Bern
Die Ostgoten siedelten zunächst in Pannonien und auf dem Balkan, wendeten sich aber dann gegen Rom und herrschten mit ihrem Anführer Theoderich über das, was aus dem einst stolzen Römischen Reich geworden war.

Diese Goten nun haben nur sehr indirekt mit der gotischen Baukunst zu tun, die ab 12.Jhd ausgehend von Frankreich die romanische ablöst. Die Faustregel kennen Sie wahrscheinlich auch: romanisch = Rundbogen, gotisch = Spitzbogen. Wenn der Rundbogen sich noch auf die Römer zurückführen lässt, die ihn nicht nur erfunden, sondern auch äußerst gerne gebaut haben, ist der Name einleuchtend, wenngleich er nicht in der Epoche selbst, sondern erst Anfang des 19. Jahrhunderts geprägt wurde. Umso weniger ist der Spitzbogen – oder auch irgendein anderes charakteristisches Merkmal der Gotik – ein Kennzeichen der historischen Goten. Da aber in Italien die Goten, die ja dem Römischen Reich ein grausames Ende bereiteten, als die Barbaren schlechthin galten, wurde im Italien der Renaissance der Kunststil, von dem die Renaissance sich abwendete, um zu den Werten der Antike zurückzukehren, als "gotico" im Sinne von "barbarisch" empfunden. Über das Französische ("gothique") gelangte der Name auch in andere Sprachen, ins Englisch zum Beispiel, oder ins Deutsche.

"Gothic [novel]" bezeichnet vor allem im Englischen eine romantische Form von Literatur: Horror und Phantastik – etwa das, was man im Deutschen "Schauerroman" nennt. Der Begriff lässt sich in diesem Zusammenhang sogar genau datieren: 1764 erschien der erste Schauerroman in England, Horace Walpoles The Castle of Otranto. A Gothic Story. Der Roman wurde stilbildend, und der Untertitel wurde Mode. Von Mary Shelleys Frankenstein bis zu Edgar Allen Poes Erzählungen war das Schaurig-Schöne angesagt. "Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke," definierte Goethe und meinte damit die Faszination, die die Nachtseite des Lebens, das Dunkel-Unheimliche auf die Romantiker ausübte.

Die Houses of Parliament in London, oder genauer: Westminster Palace, werden oft für ein wahres Juwel mittelalterlicher, gotischer Architektur gehalten. Der Gebäudekomplex wurde jedoch erst Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet, da das alte Gebäude fast völlig niedergebrannt war. Mithin ist kaum etwas wirklich Mittelalter: Die Parlamentsgebäude sind ein gelungenes Beispiel des "Gothic [Perpendicular] Revival".

Die (Sub-)Kultur und Ästhetik der Goths (seit etwa 30 Jahren), entstanden aus und angeregt durch Post-Punk-Musik, ist nur insofern "gotisch", als die Musik, Gothic Rock, die Faszination des Dunkel-Makaberen widerspiegelt, wie sie schon die Literatur der Gothic novels zum Ausdruck brachte. Zwischen Selbstinszenierung, einer Ästhetisierung des Schauerlichen und deren Kommerzialisierung in Film, Musik und Literatur ist "gotisch" kaum mehr noch als ein Etikett.

Und doch: Von einem ostgermanischen Volksstamm der Völkerwanderungszeit über einen mittelalterlichen Baustil im 12. Jhd., eine literarische Mode im späten 18., die Wiederentdeckung des mittelalterlichen Stils im 19. bis zu einer Subkultur im beginnenden 21. Jhd. ist ein eindrucksvoll langer Weg.

 Nachtrag: "Gotisch" nennt man manchmal Schriften, die fantasievoll nach Mittelalter aussehen - fantasievoll deshalb, weil sie oft vor lauter Begeisterung der Schnörkel zu viele machen, z. B. so:
Nun gibt es bei den sogenannten "gebrochenen Schriften" (engl. "blackletter fonts") einige, die tatsächlich aus der Zeit der Gotik (also Hochmittelalter) stammen, und einige davon, z.B. die sogenannte Textura, sind sogar DIN-Schriften.


Ordentliches Mittelalter!