Schriftwechsel
Die Schrift, die Sie
gerade lesen, stammt von der Schrift der römischen Antike ab (und
heißt im Folgenden 'Lateinschrift'); die Sprache ist Deutsch, und
die Schrift ist dieser Sprache angepasst, aber nicht immer ganz
glücklich. Wir haben Buchstaben im Alphabet, die wir eigentlich
nicht brauchen (C, J, Q, V, X, Y und Z; sie ließen sich allesamt
ersetsen); unsere Umlaute sind Kompromisse (Ä, Ö, Ü sind keine
eigenen Zeichen!) und anderseits schreiben wir unnötig kompliziert
bei Lauten, die relativ häufig vorkommen: CH, SCH, NG. Aber wir haben
uns daran gewöhnt. Der Grund für diese Sachlage ist, dass unsere
germanischen Vorfahren von den römischen Besatzern und Missionaren
erst das Schreiben gelernt haben.
Bei der Einführung
der Schrift in Kulturen (und Sprachen), die noch nicht verschriftet
sind, wird i.allg. die Schrift der Missionare/Eroberer benutzt und
mehr oder weniger stark dem phonetischen System der kolonisierten
Sprache angepasst. So führten die byzantinischen (also
griechischsprachigen) Mönche Kyrill und Method eine Form des
Griechischen ein, die dem slawischen Lautbestand osteuropäischer
Völker angepasst war. Diese Schrift, das glagolitische Alphabet,
entwickelte sich allmählich zur Kyrilliza, der kyrillischen Schrift.
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Russische Variante des Kyrillischen Alphabets |
Im
Laufe der Jahrhunderte entwickelten sich Varianten des Kyrillischen,
die sich je nach Sprache (und deren Lautinventar) unterschieden, denn
die Schrift wurde nicht nur für Russisch, sondern auch für andere
Sprachen verwendet. Dies sind zum einen andere slawische Sprachen,
die dem Russischen verwandt sind, wie Bulgarisch, Ukrainisch oder
Mazedonisch, zum anderen aber auch nicht-slawische Sprachen, die noch
kein eigenes Alphabet hatten (d.h. noch gar nicht verschriftet
waren), als sie dem Reich der russischen Zaren eingegliedert wurden.
Darunter waren Turksprachen wie Kasachisch, Kirgisisch oder
Uigurisch, und "exotischere" Sprachen wie Tadschikisch oder
– seit dem 16. Jhd. bereits - Rumänisch.
Natürlich
wurden auch nicht alle slawischen Sprachen kyrillisch;
nicht-orthodoxe Länder wie Polen, Tschechien, Slowakei oder Kroatien
passten die Lateinische Schrift ihren Bedürfnissen an, und auch die
Sprachen am Kaukasus, die bereits ein eigenes Alphabet hatten, wie
Georgisch oder Armenisch, behielten dieses bei. Eine große Ausnahme
war Rumänien: Dort schaffte man 1865 das kyrillische Alphabet ab und
schrieb fürderhin mit lateinischen Buchstaben.
In
Zeiten der Sowjetunion wurde die Kyrillisierung Asiens energischer
vorangetrieben, und jetzt wurde z.B. auch Mongolisch mit kyrillischen
Buchstaben geschrieben.
Glagolitisch sieht
für das ungeübte Auge sehr exotisch aus, auch im Vergleich zum
Griechischen. Das daraus entwickelte Kyrillisch hingegen ähnelt
stark dem lateinischen Alphabet, und zwar nicht ganz zufällig: Zar
Peter der Große, der westlichen Einflüssen
gegenüber ohnehin offen war, ließ um 1700 die Schrift in seinem
Reich modernisieren, und das hieß: dem Lateinischen optisch
angleichen. Es muss betont werden, dass dies nur ein optischer
Unterschied war: Als Schriftsysteme sind die glagolitische und die
kyrillische Variante gleich.
Dazu
eine interessante Parallele: In Deutschland war seit Jahrhunderten
eine Form des lateinischen Alphabets gebräuchlich, die heute noch
von vielen als "altdeutsche Schrift" bezeichnet wird - die
Fraktur. Überraschenderweise wurde in den 1930ern per Dekret die
Frakturschrift abgeschafft – übrigens auf persönliche Anordnung
Hitlers – und durch die heute noch gebräuchliche(n)
Antiquaschrift(en) ersetzt. Auch hier ist der Wechsel ein rein
optischer, denn das Alphabet an sich blieb gleich (Zuordnung von Laut
und Zeichen, Sonderzeichen etc.). Der Fraktur als Druckschrift
entsprach die altdeutsche Schreibschrift, häufig auch Sütterlin
genannt. Diese verschwand nach und nach mit der Fraktur.
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altdeutsche Schreibschrift (Sütterlin) |
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Sequoyah und die Cherokee-Schrift |
Manchmal
jedoch wird in einer Kultur ein kompletter Schriftwechsel vollzogen,
d.h., die Umstellung auf eine vollständig andere Schrift und eine
damit verbundene andere Phonetik. Das hat in der Regel politische
Gründe. Ein Beispiel wurde oben schon erwähnt: Der Wechsel von
Kyrillisch zur Lateinschrift 1865 in Rumänien. Rumänisch ist
bekanntlich eine romanische Sprache, stammt mithin vom Latein ab, und
ein Wechsel zur lateinischen Schrift scheint daher logisch.
Andererseits ist die vorherrschende Religion orthodox, und so läge
ein festhalten am Kyrillischen nahe. Auch im Nachbarland Rumäniens,
Moldawien, wird Rumänisch gesprochen und lateinisch geschrieben; im
abgespaltenen Teil des Landes, in Transnistrien (östlich des
Dnister) spricht man Rumänisch, schreibt aber (immer noch) in
kyrillischer Schrift.
Im
Grunde ist der Wechsel von einem Schriftsystem zu einem anderen fast
immer politisch motiviert. Als nach dem ersten Weltkrieg das Kernland
des Osmanischen Reichs, die Türkei, sich unter Kemal Atatürk, dem
"Vater der Türken" nach Westen orientierte, sich des
osmanischen Erbes entledigte und 'modernisierte', geschah das nicht
zuletzt in der Schrift: Statt der im osmanischen Reich verwendeten
arabischen Schrift wurde die ungleich modernere lateinische Schrift
Europas eingeführt, was angesichts der damals vielfach
analphabetischen Bevölkerung recht rasch und gründlich gelang. In
ähnlicher Weise wenden sich die Satellitenstaaten der ehemaligen
UdSSR immer mehr von der kyrillischen Schrift ab, wenngleich die
Umstellung nicht immer leicht zu vollziehen ist. Aserbaidschanisch
ist eine Turksprache, so dass das Land zwar ein lateinisches Alphabet
einführte, aber in Gestalt einer Variante des türkischen Alphabets.
Kasachstan scheint den Übergang noch nicht vollzogen zu haben und
fährt (inoffiziell) zweigleisig, mit der kyrillischen Schrift
einerseits und der neutürkischen Lateinschrift andererseits.
Usbekistan schwankte zwischen der arabisch-persischen Schrift und der
türkisch modifizierten Lateinschrift; letztere wird z.Zt. verbreitet
eingeführt.
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Tastatur für die indische Devanagari-Schrift |
Zum
Thema Schriftsysteme sei hier noch auf den ausgezeichneten
Wikipedia-Artikel verwiesen: