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Gotland |
Die schwedische
Insel Gotland (schwed. Götaland) trägt heute noch ihren Namen, auch
wenn die Herkunft der Goten von dieser skandinavischen Insel
umstritten ist. Später finden sie sich sowohl am Südrand der
Ostsee, aber auch am Schwarzen Meer (Krim). Ihre Sprache ist der
einzige uns bekannte Vertreter der ostgermanischen Sprachen.
Exkurs: Germanisch gibt es in drei Sprachgruppen:
Westgermanisch (d.h., Deutsch, Niederländisch, Englisch, Friesisch),
Nordgermanisch (skandinavische Sprachen) und Ostgermanisch.
Das ostgermanische Gotisch ist dank einer Übersetzung von Teilen der Bibel durch einen Bischof namens Wufila ("Wölfchen") gut überliefert (4.Jhd). Übrigens erfand Wulfila gleich noch eine Schrift dazu, denn die Goten schrieben kaum, und wenn, wie bei germanischen Völkern üblich, umständlich in Runen. Und so "klingt" ihre Sprache: atta unsar þu ïn himinam / weihnai namo þein (Der Buchstabe þ, der heute noch im Isländischen gebräuchlich ist, steht für den (englischen) th-Laut; der Text ist der Anfang des Vaterunsers). Vgl. den Nachtrag weiter unten.
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Aus "Asterix und die Goten" |
Als gegen Ende des
4. Jahrhunderts (also etwa zu Wulfilas Zeiten) asiatische
Steppenvölker ("Hunnen") in Europa eindrangen, lösten sie
eine Kette von Wanderungsbewegungen in weiten Teilen Europas aus, die
man heute die Völkerwanderung nennt. Da es selten ganze Völker
waren, die da umzogen, und da sie das nicht über Nacht taten, und
nachdem "Wanderung" zu sehr nach einem kleinen Spaziergang
klingt, ist der Ausdruck vielleicht nicht ganz treffend. Bunte Haufen
von Menschen, die mit allen Habseligkeiten auf Ochsenkarren eine neue
Heimat suchten, planlos, vielleicht auf Gerüchte hin, jenseits
dieses oder jenen Flusses, hinter den Bergen etwa, gebe es Land für
alle. Mit Kindern im Tross, die Alten und Schwachen mit sich führend,
kann das nur langsam gegangen sein, eine beschwerliche Reise in eine
ungewisse Zukunft. Begleitet und geschützt wurden sie vermutlich von
den jungen, wehrhaften Kriegern auf Pferden, die bei zwangsläufig
eintretenden Konflikten mit anderen Gruppen mobil reagieren konnten.
Die Goten zogen mit,
teilten sich, manche siedelten hier oder da, andere zogen weiter, und
allmählich bildeten sich zwei, drei größere Völker heraus, die
man Ostgoten (oder Ostragothen), Westgoten (Visigothen) und Gepiden
nennt. Unter ihnen sind es besonders die Westgoten, die im Laufe nur
weniger Generationen einen geradezu fantastischen Zug durch Europa
vollbrachten, von den Karpaten, durch den Balkan, die Donau hinauf,
durch ganz Italien, Südfrankreich, über die Pyrenäen und auf die
iberische Halbinsel. Sie gründeten in Südwestfrankreich und in
Spanien neue Reiche, das Reich von Tolosa (Toulouse), das Reich von
Toledo und andere. Die Gepiden siedelten derweil im Karpatenbogen.
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Theoderich, a.k.a. Dietrich von Bern |
Diese Goten nun
haben nur sehr indirekt mit der gotischen Baukunst zu tun, die ab
12.Jhd ausgehend von Frankreich die romanische ablöst. Die
Faustregel kennen Sie wahrscheinlich auch: romanisch = Rundbogen,
gotisch = Spitzbogen. Wenn der Rundbogen sich noch auf die Römer
zurückführen lässt, die ihn nicht nur erfunden, sondern auch
äußerst gerne gebaut haben, ist der Name einleuchtend, wenngleich
er nicht in der Epoche selbst, sondern erst Anfang des 19.
Jahrhunderts geprägt wurde. Umso weniger ist der Spitzbogen – oder
auch irgendein anderes charakteristisches Merkmal der Gotik – ein
Kennzeichen der historischen Goten. Da aber in Italien die Goten, die
ja dem Römischen Reich ein grausames Ende bereiteten, als die
Barbaren schlechthin galten, wurde im Italien der Renaissance der
Kunststil, von dem die Renaissance sich abwendete, um zu den Werten
der Antike zurückzukehren, als "gotico" im Sinne von
"barbarisch" empfunden. Über das Französische
("gothique") gelangte der Name auch in andere Sprachen, ins
Englisch zum Beispiel, oder ins Deutsche.
"Gothic
[novel]" bezeichnet vor allem im Englischen eine romantische
Form von Literatur: Horror und Phantastik – etwa das, was man im
Deutschen "Schauerroman" nennt. Der Begriff lässt sich in
diesem Zusammenhang sogar genau datieren: 1764 erschien der erste
Schauerroman in England, Horace Walpoles The Castle of Otranto. A
Gothic Story. Der Roman wurde stilbildend, und der Untertitel
wurde Mode. Von Mary Shelleys Frankenstein
bis zu Edgar Allen Poes Erzählungen war das Schaurig-Schöne
angesagt. "Das
Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke,"
definierte Goethe und meinte damit die Faszination, die die
Nachtseite des Lebens, das Dunkel-Unheimliche auf die Romantiker
ausübte.
Die Houses of
Parliament in London, oder genauer: Westminster Palace, werden oft
für ein wahres Juwel mittelalterlicher, gotischer Architektur
gehalten. Der Gebäudekomplex wurde jedoch erst Mitte des 19.
Jahrhunderts errichtet, da das alte Gebäude fast völlig
niedergebrannt war. Mithin ist kaum etwas wirklich Mittelalter: Die
Parlamentsgebäude sind ein gelungenes Beispiel des "Gothic
[Perpendicular] Revival".
Die (Sub-)Kultur und
Ästhetik der Goths (seit etwa 30 Jahren), entstanden aus und
angeregt durch Post-Punk-Musik, ist nur insofern "gotisch",
als die Musik, Gothic Rock, die Faszination des Dunkel-Makaberen
widerspiegelt, wie sie schon die Literatur der Gothic novels zum
Ausdruck brachte. Zwischen Selbstinszenierung, einer Ästhetisierung
des Schauerlichen und deren Kommerzialisierung in Film, Musik und
Literatur ist "gotisch" kaum mehr noch als ein Etikett.
Und doch: Von einem
ostgermanischen Volksstamm der Völkerwanderungszeit über einen
mittelalterlichen Baustil im 12. Jhd., eine literarische Mode im
späten 18., die Wiederentdeckung des mittelalterlichen Stils im 19.
bis zu einer Subkultur im beginnenden 21. Jhd. ist ein eindrucksvoll
langer Weg.
Nachtrag: "Gotisch" nennt man manchmal Schriften, die
fantasievoll nach Mittelalter aussehen - fantasievoll deshalb, weil
sie oft vor lauter Begeisterung der Schnörkel zu viele machen, z. B.
so:
Nun gibt es bei den sogenannten "gebrochenen Schriften"
(engl. "blackletter fonts") einige, die tatsächlich aus
der Zeit der Gotik (also Hochmittelalter) stammen, und einige davon,
z.B. die sogenannte Textura, sind sogar DIN-Schriften.
Ordentliches
Mittelalter!