Zum
Beispiel Norwegisch: das ist eigentlich keine Sprache, sondern
zwei. Die eine, Bokmål, ist eigentlich eine Form von Dänisch (bzw.
städtisches Oslo-Norwegisch). Diese Form wird von den meisten der
ca. 5 Millionen Norweger benutzt. Daneben gibt es aber auch Nynorsk,
Neu-Nordisch, das früher einmal Landsmål hieß, eine
romantisierend-rekonstruierte Form des "eigentlichen"
Norwegisch, der Sprache der (west-norwegischen) Landbevölkerung.
Beide sind geschriebene Formen der Sprache; gesprochen zerfällt
Norwegisch in viele Dialekte, was angesichts der Abgeschiedenheit
vieler Fjorde auch kaum wundert.
Beispiel:
"Ich komme aus Norwegen"
Bokmål:
Jeg kommer fra Norge
Nynorsk:
Eg kjem frå Noreg
Oder
Shqip, Albanisch: Ähnlich wenige Sprecher (halb so viele wie
Bayern Einwohner hat!), aber eigentlich auch zwei Sprachen. Im Norden
(und im Kosovo) Gegisch (Gegërisht), im Süden Toskisch
(Toskërisht). In jeder Hinsicht, sei es in Wortschatz, Aussprache
oder Grammatik zwei recht unterschiedliche Idiome.
Beispiel:
"was?" Toskisch:
çfarë? Gegisch:
qysh?
Oder
Serbokroatisch, Srpskohrvatski: das war mal eine Sprache
(eigentlich hat das nie gestimmt!), jetzt sind es zwei (oder mehr).
Solange es Jugoslawien und Jugoslawen gab - dem Namen nach alles
"Südslawen" - war dies die offizielle Amtssprache.
Natürlich gab es auch damals schon gravierende Unterschiede in
Wortschatz wie Aussprache, aber das nannte man damals Dialekte.
Inzwischen ist Jugoslawien zerfallen, die Harmonie der südslawischen
Brudervölker dahin, und Serbisch und Kroatisch gelten als
verschiedene Sprachen. Ob daneben das Bosnische zum Beispiel eine
eigene Sprache ist, sollen die Bosnier sagen. (Wenn man die
Faustregel anwendet, alles was mit kyrillischen Buchstaben
geschrieben wird, sei Serbisch, dann steht Bosnisch wohl dem
Kroatischen näher).
Beispiel:
"Guten Tag!" Kroatisch:
Dobar dan! Serbisch:
Добар дан!
Häufig
ist das, was als Sprache gilt, eigentlich nur eine (für
Außenstehende meist undurchsichtige) Gemengelage von Dialekten. So
etwa das Baskische: es zerfällt in die Dialekte von Bizkaia,
Gipuzkoa, Araba und Nafarroa in Spanien und von Lapurdi, Nafarroa
Beherea und Zuberoa in Frankreich; eigentlich besteht Baskisch aus
noch viel mehr Dialekten. Dies sind nur die Hauptgruppen. Recht
betrachtet, spricht man in jedem Tal irgendwie anders. Und das bei
vielleicht 700 000 Sprechern!
Beispiel:
elf (11) Guipuzkoanisch:
amaika; Bizkainisch:
ameka;
Lapurisch:
hamaka; Zuberoa:
hameka
Beispiel:
"Ihr habt es" Bizkainisch:
dozue; Guipuzkoanisch:
dezute;
Ronkalesisch:
tzei; Zuberoa: düzüe
"Baskisch"
heißt ezkuera, euskala, uskera, eskara, eskoara, je nachdem...
Damit
verwandt, aber nicht identisch ist übrigens Ladinisch.
Gesprochen (in ein paar Südtiroler Tälern) von einer sprachlichen
Minderheit wie es kaum noch kleiner geht (30 000), zerfällt es doch
auch in fünf Dialekte, nämlich Maréo/Badiot, Gherdëina, Fascian,
Anpezan und Fodom.
Beispiel:
"Wie schön du bist!" Surs.:Tgei
bi che ti eis! Sut.:
Tge beal ca tei es
Surm.:Tge
bel tgi te ist! Putér:
Che bel cha tü est!
Vallader:
Che bel cha tü est! Jauer:
Tge bel che ti es!
Um
halbwegs einen Bogen zu schlagen zum Anfang des Artikels, einmal eine
Sprache aus einer Landschaft ganz ohne Täler (aber auch ohne
Fjorde): Friesisch. Gesprochen von immerhin (fast) einer
halben Million Sprechern in den Niederlanden und in Deutschland. In
der niederländischen Provinz Fryslân, die im auch die
westfriesischen Inseln einschließt, nicht mehr auf den
ostfriesischen (in Niedersachsen), wohl aber auf den nordfriesischen
Inseln (in Schleswig-Holstein). In Ostfriesland spricht man heute ein
Platt mit gelegentlichen friesischen Einsprengseln, ansonsten ist die
Sprache hier schon lange tot (mit Ausnahme der Gemeinde Saterland in
Kreis Cloppenburg: dort sprechen noch ein paar Handvoll Leute das
sog. Saterfriesisch). Auf den nordfriesischen Inseln hingegen lebt
die Sprache noch, und zwar in zehn verschiedenen Dialekten mit
zehntausend Sprechern.
"Vater
unser im Himmel" auf Mooringer Friesisch
(aus der Gegend im Niebüll): Üüsen Tatje
önj e hamel
und
auf Föhrer Inselfriesisch:
Üüsens Aatj ün hemel
Es
fällt auf, dass es oft gerade die sehr kleinen Sprachen mit nur
wenigen Sprechern sind, die - scheinbar 'unnötigerweise' - auch noch
in viele Dialekte zersplittert sind. Und doch: eigentlich kein
Wunder. Zum einen fehlt solchen Sprachen meist ein gemeinsamer
Standard, wie ihn die Medien setzen. Vielfach sind sie Teil der
mündlichen Kultur und praktisch ohne verbindliche Schriftform. Da
sie als Minderheitensprachen in einem anderssprachigen Umfeld
bestenfalls toleriert werden, scheint ihren Sprechern sozialer
Aufstieg nur in der dominanten Sprache des Landes möglich,
bestenfalls trotz, aber nicht wegen ihrer eigenen Sprache. Ein Baske,
der Karriere macht, wird das wahrscheinlich im Spanischen tun und
seine baskische Identität ist dabei nachrangig.
Oftmals
ist die Minderheitssprache das Einzige, was der jeweiligen Kultur als
typisch eignet. Es gilt mithin, das Alte zu bewahren; die Sprache
bleibt konservativ und entwickelt sich kaum noch spontan (1);
meist sind es auch nur Angehörige der älteren und ältesten
Gneration, die sie gut sprechen. So kommt es oft zu einem
romantisierenden Rekurs auf vermeintlich bessere Zeiten.
Die
"Fryske frijheidt" findet der Friese nur noch in seiner
Sprache.
Fußnote
(1)
bezeichnenderweise werden Neologismen, Bezeichnungen etwa für neue Dinge, aus der dominanten Sprache übernommen