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Samstag, 1. Dezember 2012

Von Irren und Idioten


In wenig zimperlichen Zeiten pflegte man zu unterscheiden zwischen dem Irren, etwa dem, der in der Irrenanstalt herumtobte oder dem, der sich für Napoleon hielt, und andererseits dem Idioten, dem geistig Minderbemittelten, auch schwachsinnig genannt oder zurückgeblieben.

Der Irre war und ist (wenn auch oft unter anderem Namen) "ver-rückt", und zwar im wörtlichen Sinn: seine Weltwahrnehmung ist gegenüber der unseren verschoben, und je nachdem, wie groß der Unterschied ist, wie groß auch sein Zweifel an der Welt, kennt unsere Diagnose die unterschiedlichsten Bezeichnungen. Interessant hierbei ist, dass auch andere Sprachen diese Verschiebung benennen und ebenso, dass es jeweils endlos viele Synonyme zu geben scheint.

So sprechen z.B. die Franzosen von fou (bzw - bei Frauen - folle), was letztlich vom lateinischen follis abgeleitet ist, und das heißt - "Windbeutel, Ballon". Verrückt heißt auf Lateinisch de mente captus (daher dement) bzw. insanus (daher im Englischen insane). Es gab früher in der Rechtssprache den Fachterminus de compos mentis, "bei klarem Verstand"; war einer das nicht, also non compos mentis, war er im Englischen (aus der Verballhornung dieses Begriffs) ein nincompoop, also ein "Trottel", ein "Einfaltspinsel" - fast schon ein Idiot, aber aufgeblasener als dieser, eben ein Windbeutel. Im Spanischen ist ein Verrückter loco (wovon die Herkunft ungewiss ist: Coromines führt es auf den Plural des Feminins von arabisch lauq zurück, aber das muss man nicht glauben. Loco ist der Spanier übrigens auch, wenn er verrückt nach etwas ist, etwa seiner Spanierin.

Im Italienischen sagt man pazzo, wenn man "toll, rasend" meint, aber auch "unsinnig". Wenn das Verhalten des Verrückten inkongruent ist mit dem, was ich für normal halte. A propos "rasend": Es gibt ein gewichtiges Werk der italienischen Literatur, den Rasenden Roland des Ludovico Ariosto (um 1520), in dem Roland (Orlando) vor Liebe seinen Verstand verliert (soll es geben), bis ein mitleidiger Prinz Astolfo zum Mond reitet (wenn man einen Hippogryphen hat, geht das) und ihm von dort seinen Verstand in einer Flasche zurückbringt. Der rasende Roland heißt im Original L’Orlando furioso. Interessanterweise hat das Wort furios, eigentlich "von den Furien gehetzt", eine geradezu positive Konnotation im Deutschen. Wahrig gibt neben 1. wütend, hitzig, leidenschaftlich auch 2. mit begeisterndem Schwung, packend an. Das englische furious dagegen heißt "wütend", und zwar vor Zorn, nicht vor Leidenschaft. Diesen Zorn benennt etwa auch das französische furieux, oder furioso im Spanischen und im Italienischen
Aber bleiben wir kurz beim Englischen: es kennt zwei Wörter für verrückt, die geradezu in die deutsche Umgangssprache eingegangen sind: mad und crazy. Warum aber sagt man z.B. Mad Cow Disease (Rinderwahn: wenn der Kuh auch noch das bisserl Verstand abhanden gekommen ist), warum nicht Crazy Cow Disease?

Mad heisst "mentally ill; insane: Very enthusiastic about someone or something" (zitiert nach dem Oxford Dictionary of English), hingegen ist crazy erst mal "informal" (umgangssprachlich), kann zwar auch so etwas wie "ausgerastet" heißen, ebenso auch "unsinnig"; laut dieses Wörterbuchs sogar "especially as manifested in wild or aggressive behaviour". Der Unterschied ist nicht immer einfach zu fassen: es scheint, als ob bei crazy mehr das Ausgeflippte, Närrische im Vordergrund steht, und bei mad eher das Kranke, Wahnsinnige. Andererseits sind die beiden Wörter in vielen Zusammenhängen fast synonym.

Des Weiteren kennt gerade auch das Englische eine Unmenge an Synonymen für "verrückt". Ein aufschlussreiches Wort sei noch herausgegriffen: lunatic. Hier steckt ganz deutlich der Einfluss des Mondes (lat. luna; frz. la lune) dahiner, der das Tun mancher Menschen, so glaubte man, beeinflusst. Das Wort hat auch eine umgangssprachliche Form, loony, und das Irrenhaus heißt dementsprechend loony bin (früher und offiziell lunatic asylum). Loony bin heißt übrigens wörtlich "Irreneimer" (quasi der Mülleimer für Irre). Schön ist auch das Kuckucksnest: cuckoo ist verrückt, und das nest ist die Anstalt. Wer im Biologieunterricht aufgepasst hat, weiss, dass der Kuckuck. ....na? J
Jedenfalls heisst der Film mit Jack Nicholson aus dem Jahre 1975 One Flew Over the Cuckoo's Nest

Ein interessantes Wort in diesem Zusammenhang ist das Jiddische meschugge: Im heutigen Umgangsdeutsch (nicht unbedingt in der Jugendsprache, scheint mir) ist es ein Synonym zu "bekloppt" oder "irgendwie bescheuert"; im Jiddischen heißt es auch schon, neben "verrückt und wahnsinnig", "spinnert", "kauzig". Das Wort deckte eigentlich die ganze Bandbreite, von "liebenswert schrullig" bis "toll, rasend" ab.

Noch einmal zurück zum Wort irre: schon die Gebrüder Grimm bezeichnen das Wort als urverwandt mit (lat.) errare -humanum est, wie wir wissen- und bedeutet somit "sich täuschen, irren, herumirren", und daher auch "Irrweg", "Irrgarten" und "Irrtum". Der Irre, das will die Bezeichnung ausdrücken, ist neben der Spur, nicht auf dem rechten Weg. Er irrt sich, wenn er glaubt, er sei Napoleon, und wenn ihm keiner glaubt, bzw. wenn er glaubt, dass ihm keiner glaubt, rast er vor verzweifelter Wut.

Der Idiot hingegen ist ein Trottel. Das ist auch nicht mehr politisch korrekt; er ist einfältig (im 18. Jahrhundert wollte Johann Jacob Winckelmann noch das Erhabene der antiken griechischen Kunst aus deren "edler Einfalt" (!) und "stillen Größe" herleiten) und er ist blöde (im Sinne von einfachen Gemüts; die Grimms zitieren Luthers Übersetzung von Hiob: "gott hat mein herz blöde gemacht und der allmechtige hat mich erschreckt"). Er ist zurückgeblieben, von schwachem Verstande, ein Simplex, ein Schwachkopf.

Aber das Wort Idiot hat eine sehr eigenartige Etymologie: ἰδιότης , Idiotes, heißt im (Alt)Griechischen die Privatperson; im 16. Jahrhundert wird daraus "der Ungebildete, Laie, Stümper" (zitiert nach Kluge); als juristischer Fachausdruck für "nicht im Vollbesitz der geistigen Kräfte" geht das Wort in die Gemeinsprache ein. Meyers Konversationslexikon von 1895 schreibt: "Idiotie, Idiotismus (grch.), in der Medizin der Inbegriff aller Formen von Geistesschwäche (s. d.), die durch frühzeitig (im Kindesalter bez. schon vor der Geburt) eintretende Störung der Gehirnentwicklung zu stande kommen," und "Der Grad der Geistesschwäche zeigt große Verschiedenheiten, von der einfachen Dummheit bis zum tiefsten Blödsinn"

So hartherzig man scheinbar früher mit "Schwachsinnigen" verfuhr: viele "Dorftrottel" waren durchaus akzeptiert im Dorf, und nicht jeder idiot de la famille wurde in der Besenkammer versteckt. Und mal ehrlich: Mit der scheinbar so objektiven IQ-Messung in unseren Tagen ist es auch nicht so weit her. Kann man denn Intelligenz messen (messen Sie mal den Regenbogen, den Hass oder die Ewigkeit!), sollte man sie messen? Was hätte man denn gewonnen?

Ein "wissenschaftlich" begründetes "ÄTSCH!"

NB: Das im Englischen oft auch heute noch gebräuchliche Wort für chaotisches drunter und drüber, wenn es also zugeht “wie im Tollhaus”, bedlam, leitet sich von einer Anstalt namens Bethlehem Hospital (gegr. in London 1377) her; die erste zwang- u. gewaltfreie Anstalt war das von einem Quäker namens Tuke im englischen York 1796 gegründete Retreat. Doch das ist nochmal eine andere Geschichte...

Fußnoten:
  1. Joan Coromines, Breve diccionario de la lengua castellana, Madrid 32008
  2. Gerhard Wahrig, Deutsches Wörterbuch digital 2.1
  3. vgl. hierzu Beckett, Endgame
  4. das Wort fehlt interessanterweise im Altnordischen, sagt das Grimmsche Wörterbuch
  5. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache Berlin 221989

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